Samstag, 05. Juli 2025, 08:00 Uhr
von Prof. Dr. Sebastian Seiffert

Metal, Wandern und der ganze Rest

Manche Dinge sind nicht mit Worten zu fassen. Und nicht mit dem Verstand. Du fühlst sie einfach. Mir geht es jedes Jahr für zwei Wochen so, wenn ich mit einer Gruppe zum Rockharz Open Air wandere. Es ist Zeit zum Kraftschöpfen. Und zur Verarbeitung.
Nächtliches Selfie vor dem großen Gegenstein oberhalb des Rockharz-Festivalgeländes bei Ballenstedt, aufgenommen kurz vor Mitternacht am Festivalsamstag 2023. Die Lichter des Festivals unter dem Hügel hüllen den Stein in mystischen Schein. Es ist für mich einmal im Jahr eine Zeit, um loszulassen. Es zählt nur der Moment und seine Magie.

Ich habe hier schon oft durchblicken lassen, dass mich eine tiefe Liebe mit meiner Harzer Heimat verbindet. Mit ihrer Wildnis. Ihrer rauen Schönheit. Und mit den Menschen dort. Goethe bezeichnete die Harzer als zänkisches Bergvolk. Heine schloss sie ins Herz. Beide haben irgendwie recht. Hart aber herzlich, das trifft es vielleicht ganz gut.

Ebenso geht es mir mit Musik. Mit Heavy Metal. Auch das hat diese Facetten.

Beides lässt mein Herz höherschlagen. Und beides begleitet mich seit langem. Ganz besonders innig seit 2018.

Ich fing vor 20 Jahren an, regelmäßig das Rockharz Open Air zu besuchen. Ein damals kleines aber feines Festival vor den Toren der Stadt Osterode am südlichen Harzrand. Zu der Zeit spielte ich selber in einer Metal-Rock Band, und es war nur ein Katzensprung von meiner Heimatstadt Clausthal entfernt. Ich genoss die familiäre Atmosphäre und supportete gleichsam Lokalbands aus unserem Proberaumkomplex wie bekanntere Genregrößen.

Vor zehn Jahren war es für mich für eine Zeit lang das vorerst letzte Mal. Die wissenschaftliche Laufbahn verlangte ihren Tribut; und kurz danach wurden auch meine Kinder geboren. Dennoch hielt ich dem Festival zumindest über den Newsletter die Treue. Irgendwann im Frühjahr 2018 fand sich dort ein Aufruf eines Wanderfreunds aus Osterode, der zum 25-jährigen Festivaljubiläum etwas Besonderes machen und über 125 km vom früheren zum jetzigen Festivalstandort wandern wollte. Die Strecke umfasst den berühmten Harzer Hexenstieg plus noch ein Stück entlang der Teufelsmauer. Ich war sofort begeistert und schrieb ihm noch am selben Tag.

Einige Monate später machte sich eine Gruppe von sieben Leuten aus allen Teilen Deutschlands auf den langen Weg. Es war für mich der Beginn eines seither regelmäßigen Jahreshighlights. Die Stimmung war locker, alle mochten sich sofort und verbrachten eine richtig gute Zeit miteinander. Auch sonst war damals noch nichts von all der Schwere und den gesellschaftlichen Scherkräften spürbar, die schon bald folgen sollten.

Bei unserer ersten Wanderung sah der Harz noch ganz anders aus als heute. Dunkelgrüne Fichten säumten unseren Weg entlang schattiger Pfade. Und doch war etwas unnormal. Seit April war Dauersonnenschein, kaum Regen, und irgendwie kam mir das (gerade als jemand, der im Westharz aufgewachsen war) schon ungewöhnlich vor. Es war der erste von einer ganzen Reihe von Dürresommern, die im Harz einen brachialen Kippvorgang auslösten. Der Borkenkäfer fraß die wehrlosen Fichten forthin in nur drei Jahren fast komplett auf; und der Harz nahm ein dystopisches Bild an. Im Folgejahr stand unser Wanderbeginn unter einer Hitzewelle. Am Vortag unserer ersten Etappe waren es 38 Grad. Zum Glück mussten wir tags darauf nur bei 30 Grad wandern. Aber auch das war ... besonders.

2020 und 2021 fiel das Festival aus. Wir wanderten trotzdem; auf Tagestouren im Harz und am Rennsteig. Erst 2022 ging es wieder regulär gen Ballenstedt.

Während all dieser Jahre passierte auch in mir etwas. Die Klimakrise wurde mir bewusst und stieß mich in einen jahrelangen Abgrund der Verarbeitung mit allen denkbaren Trauerphasen: Schock, Wut, Verzweiflung, Depression ... und letztlich Akzeptanz. Viel davon fand in Denkphasen auf unseren langen Tagesmärschen statt. Auf unseren Wanderungen 2021, 2022, 2023 lief ich oftmals Kilometerlang allein grübelnd vor mich hin. Gleichsam wurde ich zu dieser Zeit auf vielen Ebenen aktiv; ich habe hier schon verschiedentlich darüber berichtet. Eine davon war Onlinekommunikation etwa auf Social Media (damals vor allem Twitter). Ich weiß noch, dass ich es mir etwa 2022 aber regelrecht selber verbot, über unsere Wanderung dort zu posten. Grund dafür war auch ein wirklich schlechtes Gewissen gegenüber der Klimabewegung. Ich konnte mir nicht vorstellen, mich locker wandernd und Festival-feiernd in Tweets zu präsentieren, während andere gerade ihre schiere Verzweiflung über die Klimasituation verarbeiten.

Gleichsam erlebte ich diese Zeit damals als einen Beginn zunehmender gesellschaftlicher Spaltung; und teils befremdlicher Stimmungsverschiebung. Auch in der bisher so fröhlich-familiären Metal-Community. Sogar in unserer echt netten Wandergruppe. So hatte ich etwa mal in einem Klimavortrag Ende 2019 Bilder unserer Wanderungen 2018/19 gezeigt, um von dort auf die Situation und die ökologischen Kippvorgänge im Harz zu kommen. Nie hätte ich gedacht, dass daran jemand Anstoß nehmen würde. Doch das passierte. Es gab zwei Personen aus unserer Gruppe, liebe und tolle Menschen mit denen ich schon viel gelacht hatte, die sich da stark dran rieben und meinten, das mit dem Klima sei alles Hysterie und sie wollten damit gar nicht in Verbindung gebracht werden. Später zeigten dieselben beiden auch Ablehnung gegenüber Masken und Impfungen. Wir haben darüber oft lang und kontrovers diskutiert. Das Tolle ist, dass es uns dabei dennoch stets wieder gelang, hinterher ein Bier zusammen zu trinken und über Musik zu reden. Diese Gemeinsamkeit bietet eben eine Grundlage, auf der dann auch wieder lockerer Umgang möglich war; trotz aller Diskrepanz in so manch leidenschaftlicher Diskussion.

Doch auch abseits unserer kleinen Gruppe trat ähnliches zutage. Ich erinnere mich, wie ich 2022 teilweise verhöhnt bis spitz angefeindet wurde, als ich mit Atemmaske im Pit vor der Bühne stand; was dort allein schon wegen des Staubs gar nicht so schlecht ist. Nicht falsch verstehen: es waren wenige Einzelfälle, die meisten interessierte das schlicht nicht (und manch andere hatten selber zumindest Tücher im Einsatz), aber dennoch hatte ich das so in Jahrzehnten zuvor nie erlebt. Und auch gab es immer wieder (wiederum vereinzelte) Stresser, die durch aggressives Pogen einfach nur nervten. Nicht so sehr beim Rockharz, aber bei größeren Konzerten etwa von Iron Maiden und Metallica in diesen Jahren. Man merkte damals, wie sich irgendwie gesellschaftlich irgendwas verschob.

Inzwischen sind wir in anderen Zeiten angekommen. Im Harz zeigen Pflanzaktionen und natürlicher Nachwuchs seitens Landesforsten und Nationalpark erste zarte Spuren neuer Wälder. Ob sie das kommende Klima des sich immer brachialer erhitzenden Planeten aushalten werden ... nun ja, das ist ein anderes Thema. Und auch ich habe die Verarbeitung vollendet. Ich habe akzeptiert. Das verlangte nicht weniger als einen gleich doppelten Abschied. Einmal Abschied von einer stabilen und glücklichen Vergangenheit. Und überdies Abschied von der Zukunft. Ich denke nicht mehr an sie. Ich habe weder Hoffnung noch Furcht dabei. Es gibt sie für mich schlicht nicht mehr. Stattdessen habe ich zurzeit eine echt schöne Zwischenstufe erreicht: Dankbarkeit. Wenn ich heutzutage im Harz noch letzte Stücke dunkler Fichtenforste durchwandere, sauge ich genussvoll ihren Duft auf. (Ja, ich weiß wie problematisch solche Forste sind; das ist hier nicht das Thema.) Wenn meine Kinder sich über Alltägliches freuen, geht mir das Herz auf. Und wenn ich auf dem Rockharz-Festival einen guten Song höre, vergesse ich die Welt ringsum. Es gibt nur ihn: diesen Moment im Hier und Jetzt. Was war, ist verloren. Was kommt, wird brutal. Doch so absurd es klingen mag: beides macht mich momentan einfach dankbar. Dankbar dafür, dass es jetzt gerade in diesem Moment gut ist.

Inzwischen kann ich meine Rockharz-Wanderungen wieder genießen. Weil sie mir genau das schenken: den Moment. Es geht nicht um gestern oder morgen. Sondern einfach nur um das Jetzt. Um den momentanen Wegabschnitt. Um Frieden im Kopf. Und um das Zusammensein. Ich muss mich dort nicht beweisen und es niemandem recht machen. Ich darf einfach nur Sebastian sein. Und auch wenn es mal kontrovers zur Sache geht in Gesprächen, können wir danach Bier trinken, über Metal reden und einfach über Blödsinn lachen. Mit jedem Schritt und Kilometer wächst der Abstand; auch im Kopf. Zwar werden die Beine schwerer, doch das Gemüt wird leichter. Wenn es doch nur überall in der Gesellschaft so einfach wäre.

Auch den Veranstaltern des Rockharz bin ich einfach krass dankbar. Denn was sie jedes Jahr auf die Beine stellen, ist weit mehr als ein Musikevent. Es ist ein Anlass und Ort, um Zusammenzukommen. Um Leichtigkeit zu erleben. Das halte ich für ganz essenziell. Gerade in diesen immer schwereren Zeiten von Dauerkrise und Spaltung. Für mich selbst ist diese Zeit im Jahr ein Quell von Lebenskraft und Durchhaltevermögen. Auch, um weiterzukämpfen — um eben genau das noch etwas länger zu erhalten. Festivals sind Zeit der Leichtigkeit. Wie sehr wir alle das doch brauchen können. Und Metal ist ... pure Lebensfreude.

Bevor es jetzt hier zu pathetisch wird, ende ich lieber. Und zwar mit einem Songzitat:

„It’s the lust for life that never disappears.
When the lust for life is stronger than the fear.”
— Gammaray
Ankunft am Rockharz-Festivalgelände nach 120 km Wanderung am Abend des 1. Juli 2025. Die goldene Lichtstimmung beschreibt den Moment besser als jedes Wort.