Klima-Akzeptanz ist Jetzt
Ein besonderer Tag
Der 3. September ist ein besonderes Datum. Im Jahr 1860 fand an diesem Tag die erste internationale Fachtagung für Chemie in Karlsruhe statt. 1926 wird der Berliner Funkturm eingeweiht. Und in Süddeutschland wird 1955 die erste selbstwählbare Telefonverbindung ins Ausland eingerichtet.
Solche Anekdoten suche ich mir immer gern zusammen, wenn ich Vorträge halte. Ich recherchiere nach wichtigen oder witzigen Jubiläen aus der Wissenschafts- und Technikgeschichte, die auf den Tag des Vortrags fallen. Und dann schlage ich von dort eine mehr oder weniger elegante Brücke zum Vortragsthema.
Der 3. September hat indes für mich eine ganz besondere Bedeutung. 2022 veröffentlichte ich an diesem Tag eine Videobotschaft auf Twitter. Sie fand dort ziemliche Verbreitung, wurde in den folgenden Tagen rund 100.000 Mal angeschaut und erfuhr viel Resonanz — zu meiner Überraschung vor allem positive. Es war ein Video aus dem Harz. Aufgenommen vor einem wüsten Kahlschlag eines vertrockneten Forsts, den ich seit Kindheitstagen kannte. Am Horizont stehen letzte Gerippe verdorrter Fichten. In dieser Kulisse redete ich mir über 9 Minuten meine Sorge, meine Angst, meine Verzweiflung von der Seele. Es war der Tiefpunkt meiner Klima-Verarbeitung.
Von Tälern und Tränen
Ich habe schon mehrfach erzählt, wie und wann mir die Klimakrise bewusst wurde. Und dass das, was dann folgte, eine Talfahrt war. Im Klimadiskurs gab es einst den Vergleich zu den Sterbephasen im Kübler-Ross-Modell: Verdrängung. Wut. Verhandeln. Depression. Und schließlich Akzeptanz. Ich habe jede davon durchlebt.
Am 3. September 2022 steckte ich tief in der Depression. Seit Ende 2019 war ich schon aktiv in Richtung Klima. Ich hielt Vorträge über die Physikalische Chemie des Klimawandels. Engagierte mich bei den Scientists for Future in Mainz. Kandidierte für den Deutschen Bundestag. Diskutierte mit Harald Lesch, Özden Terli, Lea Dohm und Sara Schurmann in einem rappelvollen Hörsaal darüber, ob Wissenschaft lauter werden müsse; und mit dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer darüber, ob es beim Klimaschutz ein „aber“ geben darf. Ich war rege aktiv auf Twitter, in Podcasts, Print- und Funkmedien und bei zahlreichen Veranstaltungen.
Ich lenkte meine ganze Erschütterung darüber, wo wir als Menschheit klimatisch stehen (und noch vielmehr wohin wir steuern) in Aktivismus. Das tat gut; es vertrieb die Angst und gab ein Gefühl der Handlungsfähigkeit. Nachts aber holte mich die Krise ein. In Albträumen brannte meine Nachbarschaft und verwüsteten Extremwetter unser Haus.
Im Spätsommer 2022 war ich mit meiner Familie wie jedes Jahr im Harz. Wir verbringen unsere Sommerurlaube immer dort und in Schweden, weil unsere Eltern da jeweils leben. An einem schönen Tag machten wir einen Ausflug zum Polsterberger Hubhaus, einem malerischen Ausflugslokal nur gut 3 km auswärts meiner Heimatstadt Clausthal-Zellerfeld. Perfekt zum leichten Wandern auch mit kleinen Kindern. Ich bin die Strecke unzählige Male im Leben gelaufen; seit frühesten Kindheitstagen. Diesmal aber verpasste ich eine Abzweigung (und musste dann einen ziemlichen Umweg gehen); weil ich sie nicht mehr erkannte. Der Kollaps der Harzer Forste seit den Dürresommern 2018 bis 2022 hat dort alles verändert. Und die Wege meiner Jugend, die ich einst so gern einmal mit meinen eigenen Kindern neu entdecken wollte: ich finde sie nicht mehr.
All dies musste raus. Und so redete ich es mir von der Seele. Über 9 Minuten an genau jener Stelle am Polsterberg. Vor der wüsten Kahlschlagfläche des vertrockneten Forsts, der mir einst so vertraut war.
Ich zögerte zuerst etwas damit, das Video zu veröffentlichen. Es war doch sehr persönlich geworden und zeigte mich verwundbar, verletzlich, verzweifelt. Am Ende postete ich es doch; auch, weil es direkt an ein früheres Video vom 3. Juni 2022 anknüpfte, das mir damals sehr wichtig war.
Die Reaktionen waren überwältigend. Offenbar sprach es vielen aus dem Herzen. Und so erfuhr es tausendfache Verbreitung; und warmherzige Bestätigung. Noch heute freut mich das.
Vom Gestern zu Garnichts
Ich weiß nicht, ob es das war, was mir half. Aber danach wurde es besser. Ich ließ die Depression hinter mir und fokussierte meine Handlungen vor allem auf das Konkrete, das Lokale, das Beständige. Nicht mehr wilde Aktivität in jede Richtung, sondern eher ausgewähltes Handeln vor Ort, in meinem direkten Aktionsradius, in einer Weise, die ich für wirksam erachte. Ich entwickelte in Mainz ein Zukunftsmodul zur Klimabildung mit. Lenkte meine Forschung in Richtung Klimafolgenanpassung. Und thematisiere Klima-Aspekte seither regelmäßig in meinen Grundvorlesungen. Gerade dort merke ich wieder und wieder, wie viel Unwissen darüber selbst bei jungen Menschen vorherrscht. Das Prinzip des Treibhauseffekts kennen zwar viele aus der Schule. Aber was das bedeutet, gerade auch für die ganz eigene Lebensperspektive, weiß kaum jemand. Stattdessen scheinen viele Klima vor allem erstmal bloß als trockenen Unterrichtstoff ohne viel Selbstbezug aufzufassen.
Ringsum indes driftet die Welt in Zeiten, die ich mir kaum ausmalen mag. Tag für Tag zeigen sich rund um den Globus die Folgen der Erderhitzung; zunehmend in Häufigkeit und Intensität, genau wie vorhergesagt. Und nicht nur das physikalische Klima wird rauer; auch das gesellschaftliche. Parallel zur Veröffentlichung dieses Texts werden in zwei Bundesländern mehrheitlich Parteien gewählt, die die globale Erwärmung in Ursache und Folgen leugnen oder massiv unterschätzen. Twitter ist mittlerweile Geschichte; und dessen Ruinen nunmehr der Nährboden des Desinformationszeitalters. Fast völlig unbeachtet entwickelt sich die Künstliche Intelligenz. Und schon bald werden Desinformationsquellen sie nutzen, um den öffentlichen Raum mit professionalisierten Falschinformation aller Art zu fluten; treffend auf Bevölkerungsteile, die genau das glauben wollen.
Nennen wir es beim Namen: Wir leben in Zeiten des Kollapses. Des Zusammenbruchs all dessen, was uns vertraut war. Und was uns Stabilität gab. Die neue Normalität ist, dass nichts mehr normal ist. Und nichts mehr stabil.
Sich dessen klar zu werden, bedeutet vor allem eines: Abschied. Von einer wohligen, sicheren, und hoffnungsvollen Vergangenheit. Und von einer Zukunft, die es nicht geben wird. Das zu akzeptieren kostet Zeit. Es ist eine Reise durch ein Tal der Finsternis. Ob ich es durchschritten habe? Ich weiß es nicht. Zumindest aber habe ich momentan einen wirklich schönen Abschnitt erreicht: Dankbarkeit.
Vom Morgen zum Moment
Ich bin momentan einfach zutiefst dankbar dafür, wirklich klasse Zeiten erlebt haben zu dürfen. Winter im verschneiten Harz der 1980er. Sommer an Badeteichen in den 1990ern, wo mich außer dem Erscheinungsdatum neuer Computerspiele und Metal-CDs wenig interessierte. Zeiten der Leidenschaft in den 2000ern, in denen ich meine Liebe zur Wissenschaft entdeckte; und mit guten Freunden zeitlose Momente in Musikproberäumen und Fußballstadien erlebte. Und Zeiten des Aufbruchs in den 2010ern. In Berlin leitete ich damals meine erste eigene Arbeitsgruppe. Schrieb die ersten eigenen Papers mit Senior-Autorenschaft. Hielt meine ersten wirklich eigenen Forschungsvorträge auf Konferenzen. Und trieb nebenbei viel Sport. Was mit Jogging um Zehlendorfer Seen begann, wurde eine handfeste Obsession für Marathonläufe und Bestzeiten. Auch meine Frau lernte ich zu dieser Zeit dort kennen. Es hätte ewig so weitergehen können.
Vielleicht waren dies retrospektiv generell unsere besten Jahre. Der Höhepunkt unserer Epoche, unseres Daseins als Gesellschaft. Die Sorgen der Bankenkrise aus den späten Zweitausendern waren vergessen, die kommenden Krisen noch nicht absehbar, und wir lebten und feierten unbeschwert. Die Zukunft schien glänzend vor uns zu liegen, die Partynächte waren lauschig, und MC Fitti lieferte den Soundtrack, der uns Sommertemperaturen von 30 Grad als lockeres Karibikflair statt eines Klima-Krisenvorboten erscheinen ließ. Das Lebensmotto einer ganzen Generation war YOLO: „You only live once.“ Es war die Art auszudrücken, dass man sich keine Sorgen machen solle; und auch nicht müsse. Alle paar Jahre wählten wir Angela Merkel wieder zur Kanzlerin und vertrauten darauf, dass die technische Entwicklung einfach schneller vorankomme als alle Krisen; und dass uns das letztlich alle Probleme lösen werde.
Nun, das war wohl naiv. Es kam anders. Dennoch bin ich heute ich tief dankbar dafür, all das erlebt haben zu dürfen. Vielleicht auch, weil ich meinen Abschied davon vollzogen habe. Es war eine mehrjährige Trauer-Arbeit.
Die Erinnerung an das Vergangene erscheint inzwischen fast surreal; und schmeckt dennoch süß. Ich weiß, dass all dies verloren ist. Doch das ist okay. Ich kann mir auch ungefähr ausmalen, wie das, was kommt, wohl aussehen mag. Doch im Moment gelingt es mir, das beiseitezuschieben. Nicht um es zu verdrängen. Sondern um Freiräume zu schaffen. Freiräume zum Handeln. Nicht für irgendeine Selbstwirksamkeitserfahrung. Und auch nicht für die Illusion, damit irgendwie die Welt zu retten. Sondern einfach, weil es richtig ist.
In diesem fragilen Zwischenraum einer süßen Vergangenheit und einer bitteren Zukunft bin ich nun dort, wo mich all die Ratgeber, Kalendersprüche und Songtexte einst immer hinführen wollten: im Moment. Wenn ich heutzutage im Harz noch letzte Stücke dunkler Fichtenforste durchwandere, sauge ich genussvoll ihren Duft auf. (Ja, ich weiß wie problematisch solche Forste sind; das ist hier nicht das Thema.) Wenn die Kinder sich über Alltägliches freuen, geht mir das Herz auf. Und wenn ich auf einem Metal-Festival einen guten Song höre, vergesse ich die Welt ringsum. Es gibt nur ihn: diesen Moment im Hier und Jetzt. Was war, ist verloren. Was kommt, wird brutal. Doch so absurd es klingen mag: beides macht mich momentan einfach dankbar. Dankbar dafür, dass es jetzt gerade in diesem Moment gut ist.
Ich weiß nicht, was genau nun die Botschaft dieses Texts sein soll. Vielleicht gibt es keine. Und auch das ist okay.
Ich ende hier einfach mal mit einem Songzitat; das habe ich neulich auch in einem Video so gemacht, das eine ganz ähnliche Momentaufnahme darstellt wie dieser Text hier.
»And we fight back the tears, and we lose our fears.
Let the world remain in silence for a while.«
— Gammaray, 1990