Was ist gute Lehre?
Hochschullehre: eine Brücke
Worum geht es in der Hochschullehre? Stellen wir die Frage auf den Kopf: Worum geht es dabei NICHT? Es geht dabei nicht so sehr darum, viele Einzelfakten auswendig zu lernen. Zumindest sollte es das nicht. Das ist im 21. Jahrhundert ohnehin obsolet — findet sich doch unser gesamtes Wissen inzwischen im weltweiten Datennetz hinterlegt. Heute geht es beim Wissen vielmehr darum, „zu wissen, wo es steht“ — also um die Kompetenz, eine Information zu finden und bewerten zu können. Dafür ist das Auswendiglernen von Einzelfakten nicht wichtig; wohl aber ein solides Grundverständnis und ein guter Überblick. Es geht also um konzeptuelle Kompetenz. Eben die Sache im Kern zu kapieren. Gleichsam geht es um Reflexionsvermögen. Und um Transferfähigkeit. Auch (und vor allem!) in Bezug auf die großen Gegenwartskrisen.
Ich mag im Kontext der universitären Lehre das Bild einer Brücke. Eine Brücke schafft Verbindung. So stelle ich mir gute Lehre vor. Sie lässt uns neue Ufer erreichen. Das kann im Großen etwa der Weg von der Studienzeit ins spätere (Berufs-)Leben sein. Oder in Kleinen die Verbindung zwischen dem Aufbau und den Eigenschaften der chemischen Stoffe.
Genau darum geht es auch in meinem Fach, der Physikalischen Chemie. Hier wollen wir die Elementarwissenschaft Physik mit der Stoffwissenschaft Chemie verbrücken. Wir wollen damit zum Beispiel verstehen, warum Stoffe die Eigenschaften haben, die sie haben. Und warum sie reagieren, so wie sie es eben tun.
Ein „neuer“ Lehransatz
Bei alldem steht die didaktische Vermittlung von Lehrinhalten, wie etwa der Physikalischen Chemie, indes vor einer großen Herausforderung: Sie ist völlig aus der Zeit gefallen. Schon im 15. Jahrhundert leitete die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Gutenberg in Mainz die zweite Medienrevolution der Menschheitsgeschichte ein. (Die erste davor war der Übergang von der Wort- zur Schriftsprache, und danach folgte die dritte Medienrevolution mit dem Aufkommen elektronischer Massenmedien im 20. Jahrhundert). Heute befindet sich die Welt bereits in der vierten Medienrevolution: der Digitalisierung und Vernetzung. An Universitäten wurde jedoch bis vor Kurzem noch (fast) ausschließlich in einer Weise gelehrt, die aus Vor-Gutenberg-Zeiten stammt: als Frontalvorlesung. Die Pandemie des SARS-CoV2 Erregers katapultierte die akademische Welt nun ins 21. Jahrhundert und etablierte digitale Lehrformate. Ich habe den Anspruch, all dies in meiner Lehre zu berücksichtigen. Dafür bedarf es eines Lehransatzes, der digitales Selbstlernen mit analogem Gruppenlernen verbindet.
Meine Kurse sind deshalb inzwischen ausnahmslos Blended-Learning-Formate und bestehen aus einer Selbstlernphase zu Hause, die auf Video-, Audio- und Skriptinhalten zu Kernthemen basiert (Wissenserwerb), gefolgt von einer individuellen digitalen Feedbackeinheit auf einer e-Learning-Plattform (Wissensverankerung) und einer interaktiven Vertiefungseinheit in Präsenz (Wissensvertiefung und Wissenstransfer). Letztere greift das digitale Feedback aus der e-Learning-Plattform auf und spricht vor allem die Inhalte an, die von der Lerngruppe noch NICHT verstanden wurden.
Hierzu bietet es sich an, die Peer-Instruction-Methode zu verwenden. Die Lehrinhalte werden dabei in Form konzeptueller Multiple-Choice Fragen thematisiert. In der Präsenzveranstaltung werden dazu nacheinander etwa 5 bis 8 solcher Fragen mitsamt jeweils typischerweise 4 Antwortoptionen projiziert, und die Studierenden antworten jeweils mithilfe eines Audience-Response-Systems („Klicker-System“, beispielsweise Smartphone-basiert) zunächst ganz individuell ohne sich untereinander auszutauschen. Die Antwortstatistik, die von der Lehrperson dann ebenfalls projiziert wird, gibt den Studierenden direkt ein erstes (anonymes!) Feedback darüber, wie sich die jeweils eigene gewählte Antwort in die Gesamtkohorte eingruppiert.
Das wichtigste Element kommt jetzt: Die Antwortoptionen dieser Multiple-Choice Fragen sind stets so formuliert, dass sich neben der richtigen Antwort auch stets eine typische -scheinbar- richtige, jedoch nichtsdestotrotz falsche Antwortoption darunter befindet. Diese gibt das typische anfängliche Falsch-Verständnis eines Themeninhalts wieder, das Studierende eben oft anfangs haben, wenn sie sich damit befassen. Das Klicker-Abstimmungsergebnis wird dann typischerweise ein Kopf-an-Kopf zwischen der echten, richtigen Antwort und eben jener „meist-plausiblen-Falschantwort“ liefern. Anschließend werden die Studierenden aufgefordert sich mit ihren ringsum sitzenden Kommilitonen in Zweier- oder Dreiergruppen auszutauschen und diese von der Richtigkeit ihrer zuerst gewählten Antwort zu überzeugen. Eine zweite Wahlrunde nach einigen Minuten wird dann so gut wie immer das richtige Ergebnis mit deutlicher Mehrheit hervorbringen. Einfach weil diejenigen, die die richtige Antwort haben, auch die besseren Argumente in den Zwiegesprächen haben und etwaige Verständnislücken bei ihren Peers sogar besser verstehen und ausräumen können als Dozierende dies könnten.
Mit dieser Methodik geraten die Studierenden in eine aktive Rolle bei der Wissensvertiefung, werden angeregt und motiviert und in den Lernprozess auf mehrerlei Ebenen interaktiv einbezogen, wohingegen die dozierende Person eine Moderatorenrolle einnimmt. Die Methode erfüllt damit einen der Kernansprüche ihres Erfinders:
„Good teaching is to help students learn.“
— Eric Mazur (Harvard)
Der große Vorteil dieses Lehransatzes ist, dass er nicht nur die richtigen Konzepte vermittelt ... sondern auch ganz explizit die falschen ausräumt! Und dieser Lehransatz bietet noch einen weiteren riesigen Vorteil: Er schafft Zeit. Es geht in den Präsenzstunden im Hörsaal nun nämlich nicht mehr darum ein (meist ohnehin viel zu volles) Skript an die Tafel zu schreiben (meist ohnehin schwer leserlich), sondern es geht um Austausch. Um Interaktion. Um Beteiligung. Innerhalb der Lerngruppe und zwischen Lerngruppe und Dozenten. Und dies bietet Raum für das, was vielleicht aus dem Studium am Ende am längsten hängenbleiben wird: Erzählungen. Persönliche Geschichten. Anekdoten. Und Transfer des Lernstoffes zu Lebenswirklichkeiten. Das ist es, was Begeisterung für ein Fach weckt. Ich selber habe meine Begeisterung für die Physikalische Chemie nicht aus den vielen Formeln gewonnen, die in den Vorlesungen dazu an die Tafel geschrieben wurden. Sondern aus dem Leuchten in den Augen meines alten Professors. Und den vielen Ausschweifungen die er machte, in denen er uns zeigte, dass und wie die Physikalische Chemie mit einfach allem zusammenhängt. Am Ende ist die beste Lehre wohl die, in der ein Funke überspringt:
„Bildung ist nicht das Füllen von Fässern,
sondern das Entzünden von Flammen.“
— Heraklit
Physikalische Chemie Kapieren
Für mein eigenes Fachgebiet habe ich hierzu mit meinem Mainzer Kollegen PD Dr. Wolfgang Schärtl ein Lehrbuch entwickelt. Es hat den Titel „Physikalische Chemie Kapieren“ und ist in thematisch fokussierte und modular einsetzbare Lerneinheits-Blöcke eingeteilt. Die Lehreinheits-Blöcke umfassen jeweils rund 10...15 Seiten und können in jeweils etwa 90 Minuten Selbststudium erarbeitet werden. Jeder Lehreinheits-Block schließt mit einem Satz konzeptueller Verständnisfragen im Multiple-Choice Format. Diese können von Dozierenden in eine e-Learning-Plattform eingebaut werden, so dass Studierende diese dort nach Lektüre der Lehreinheit bearbeiten können. Viele e-Learning-Plattformen erlauben es, zu den jeweiligen Antwortmöglichkeiten Feedbacktexte zu hinterlegen, die den Studierenden dann sofort anzeigen ob und warum ihre gewählte Antwortoption falsch oder richtig ist. Aus der Antwortstatistik, die ebenfalls in vielen e-Learning-Plattformen leicht generierbar ist, können Dozierende dann sehen, welche Teilaspekte des Themas in der Studierendengruppe bereits gut verstanden sind und welche noch nicht — und entsprechend hierauf einen Schwerpunkt in einer anschließenden Präsenzeinheit setzen. Überdies können in dieser Präsenzeinheit weitere solche Multiple-Choice-Fragen eingesetzt werden, die den Stoff dann nach der Peer-Instruction-Methode weiter vertiefen.
Das, was -wirklich- wichtig ist
Soweit, so gut. Mit diesem Lehransatz sollte es möglich sein, für alle drei der oben genannten Lehrphasen (Selbststudium, e-Learning-Feedback und Präsenz-Vertiefungseinheit) durchdachtes und aufbereitetes Material zu bieten. Doch gute akademische Lehre muss noch eine weitere Leistung vollbringen: Sie sollte neben dem „was?“ auch die Frage nach dem „wozu?“ beantworten. Wofür genau sind die vermittelten Inhalte wichtig?
Hierauf würde ein klassischer Antwortansatz lauten, Studierenden aufzuzeigen, wozu bestimmte Lehrinhalte im Berufsleben wichtig sind. Das tue ich natürlich auch in meinen Vorlesungen (und im erwähnten Lehrbuch). Doch als Klimaschützer kann ich nicht umhin, auch das in meinen Augen wichtigste Menschheitsthema aufzugreifen: den Klimanotstand. Gerade die Physikalische Chemie kann viele seiner elementaren Grundlagen vermitteln. Ich lasse in meiner Lehre keine Gelegenheit dazu ungenutzt.
Dadurch soll unterm Strich und am Ende vor allem eines erreicht werden: Physikalische Chemie kapieren. Auf allen Ebenen. Mit Bezug zum großen Ganzen — und zu unser größten Herausforderung als Menschheit.