Samstag, 01. Februar 2025, 08:00 Uhr
von Prof. Dr. Sebastian Seiffert

Gesetze, Naturgesetze und Realitäten

Politik ist die Suche nach Kompromissen. Die Natur aber steht über dem. In den vergangenen Jahren machte ich es mir zur Aufgabe, dies abzubilden; auch durch parteipolitische Arbeit. Doch dieser Weg endet nun. Auch, weil Realitäten dem entgegenstehen.

Vom Möglichen und Nötigen

„Es geht nicht nur um das politisch Mögliche; sondern auch um das physikalisch Nötige.“

Ich weiß nicht mehr, wo und von wem ich diesen Satz aufschnappte. Aber er setzte sich bei mir fest. Weil er eine der größten Herausforderungen unserer Zeit auf den Punkt bringt.

Es gibt noch so eine Aussage, die sich bei mir festsetzte. Von ihr weiß ich noch, woher ich sie habe: von Harald Lesch. Sie lautet:

Ein Gebot sagt: du sollst nicht.
Ein Gesetz sagt: du darfst nicht.
Ein Naturgesetz sagt: du kannst nicht.

Auch das trifft es auf den Punkt.

Ich habe schon oft die Geschichte davon erzählt, wie ich zum Klimaschutz kam. Es war durch eine besondere Vorlesung im November 2019. Hierdurch fiel bei mir der Groschen. Es war ein abruptes Aufwachen aus einem vormals süßen Traum. Dem Traum der Unkenntnis. Dem Traum von unzähligen Möglichkeiten. Von einer Zukunft, die hoffentlich immer besser werden wird. Und in der von mir eigentlich nichts verlangt wird. Wo ich mich einfach frei entfalten kann. Wo Probleme weit weg sind; oder zumindest weit weggeschoben werden können. Und wo technischer Fortschritt am Ende hoffentlich einmal dazu führt, dass es allen irgendwie besser geht. Dieser Traum endete jäh. Als mir klar wurde, wo die planetaren Systeme inzwischen stehen; und wohin wir sie treiben. Sich dessen klarzuwerden, verändert alles. Ein mehrjähriger Prozess der Verarbeitung setzte ein. Und zeitweise schliff ich hart am Rand der Depression.

Etwa ab Winter 2020 begann ich, bei den Scientists for Future in Mainz mitzuwirken. Die Zeit stand im Zeichen von Corona; und eines anstehenden Wahljahres. Das Momentum der Freitags-Klimastreiks aus 2019 war durch die Pandemie jäh unterbrochen. Doch die Hoffnung, den Schwung bald wieder aufnehmen zu können, war stark. Damals gründeten und entwickelten sich vielerorts Wählervereinigungen unter dem Namen Klimaliste. Auch in Rheinland-Pfalz. Ziel war ein Überraschungserfolg bei der anstehenden Landtagswahl; und vielleicht noch mehr bei der Bundestagswahl. Viele der dort Aktiven hatten naturwissenschaftliche Hintergründe; eine Physikdoktorandin und eine IT-Person im Studium besetzten die Spitzenplätze in Rheinland-Pfalz. Auch dahinter gruppierte sich geballte Expertise; in vielen Fällen mit Promotion, in einigen sogar mit mehr. Doch der Achtungserfolg blieb aus; ernüchternde 0,7% der Zweitstimmen zeigten, dass es eben doch kein Selbstläufer ist, den Drang von der Straße direkt in die Parlamente zu bringen. Nur auf kommunaler und städtischer Ebene gelangen andernorts vereinzelt Erfolge.

Zur Bundestagswahl entschieden sich die Klimalisten vieler Bundesländer, nicht mit einer bundesweiten Zweitstimmenkampagne anzutreten, sondern primär mit symbolischen Direktkandidaturen in möglichst vielen Wahlkreisen. Irgendwann zu dieser Zeit wurde ich gefragt, ob ich im Wahlkreis Mainz ins Rennen gehen würde. Nach etwas Überlegung sagte ich zu. Damit begann ein weiteres Kapitel meines neuen Lebensabschnitts.

Lange Zeit war mir Politik ehrlich gesagt ziemlich egal. Ich hatte nie eine betonte politische Meinung, war immer froh, dass sich andere darum kümmern und wählte meist nach dem Ausschlussverfahren; oder nach gesellschaftlichen Trends. An eine eigene (partei)politische Arbeit hatte ich nie gedacht. Dies änderte sich im Sommer 2021. Der Ansatz der Klimaliste sagte wir zu. Einerseits, weil sie eine Gruppierung mit ganz explizitem Themenfokus ist; und andererseits, weil ihr Fundament in den Wissenschaften steht. Ich fand es gut und wichtig, das Klima im Politikbetrieb durch eine ganz explizite Wahloption abzubilden, die keine Kompromisse im politisch Möglichen sucht, sondern dem vielmehr unmissverständlich das physikalisch Nötige an die Seite stellen möchte. Andere Parteien, die das Klima zumindest halbwegs thematisieren, streben Mehrheiten und Regierungsbeteiligung an. Das ist auch wichtig. Gleichsam erzwingt es Kompromisse und reduziert den Anspruch auf das gesellschaftlich Mehrheitsfähige; eben auf das politisch Mögliche. Auch das ist wichtig. Doch ich finde, es sollte daneben auch eine Stimme geben, die das physikalisch Nötige einbringt. Die Klimaliste bot eine wählbare Option dafür; und genau das überzeugte mich. Diese Ambition. Und der klar wissenschaftsbasierte Ansatz dabei: ein ganzheitliches Klimaschutzkonzept basierend auf naturwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen. Und mit einem klaren roten Faden: die Umsetzung des 1,5-Grad-Pfads in ganz konkrete lokale Politik, auf Basis einer zentralen Rechengröße — dem CO₂ Budget.

Dass bei alldem im Sommer 2021 sogar verantwortungsbewusst ein möglicher Stimmverlust des realpolitisch progressiven Lagers mitbedacht wurde und lediglich symbolische Direktkandidaturen ins Rennen geschickt wurden, stärkte meine Überzeugung weiter. Und so nahm ich die Herausforderung an, sammelte (mit tatkräftiger Hilfe) die nötigen Unterstützungsunterschriften und trat im Wahlkreis Mainz als Direktkandidat an. Mein Wahlspruch lautete „Wandel gestalten, statt Krisen verwalten“ — als Variante des in Klima-Kreisen bekannten „Design or Disaster“. Später fasste ich es noch kürzer: „Krise kostet; Schutz spart.“

Wahlplakat zur Bundestagswahl 2021 entlang der Mainzer Kaiserstraße

Von Evidenzen und Mehrheiten

Mit Elan stürzte ich mich in einen politischen Sommer. Ich gab ein längeres Radiointerview für Antenne Mainz, saß auf Podien, hatte kurze Porträts in der Lokalpresse und führte viele Gespräche an unseren Wahlständen im Mainzer Stadtgebiet. Auch auf Twitter begann ich damals aktiv zu werden; und wurde kurz vor der Wahl sogar mal von Karl Lauterbach zitiert (vermutlich ohne dass er den Klimalisten-Bezug dabei bemerkte).

Das Ziel unserer Direktkandidaturen-Kampagne war einfach: dem Klima im Diskurs mehr Raum zu verschaffen — und vielleicht hier und da Achtungserfolge zu erzielen, die allen anderen Parteien zeigen sollten, dass eben dies bei ihnen unzureichend abgebildet ist. Am Ende standen für mich 1396 Erststimmen im Wahlkreis Mainz. 0,7 Prozent. Immerhin vierstellig; und für eine eigenfinanzierte Low-Budget Kampagne vielleicht gar nicht schlecht. Und doch natürlich völlig irrelevant.

Tweet von Karl Lauterbach, 18. September 2021

Trotzdem blieb ich der Klimaliste in Rheinland-Pfalz treu; dafür hatte ich allein schon die Mitwirkenden viel zu sehr liebgewonnen. Bald schon wurde ich sogar zweiter Vorsitzender. In Podcasts und auf sozialen Medien warb ich dafür, dass viel mehr wissenschaftliche Akteure im Politikbetrieb mitwirken sollten; egal in welcher Partei. Denn Parlamente und Kommunalorgane sind die Orte unserer Demokratie. Dort, und nur dort, werden Entscheidungen getroffen. Bewegung mag auf der Straße entstehen; Beschlüsse jedoch entstehen in politischen Gremien. Und diese sind, trotz inzwischen bis zu sieben vertretenen Parteien, viel zu oft mit absoluten Mehrheiten besetzt: aus Juristen und Ökonomen. Der Wesenskern dieser Disziplinen ist das Verhandeln. Das Durchsetzen von Eigeninteressen. Die Natur aber funktioniert genau so eben nicht. Und genau dies kann im Diskurs nur von Personen eingebracht werden, die eben dort ihre Expertise haben; gemeinsam und auf Augenhöhe mit solchen, die dies auf die gesellschaftlich-soziale Ebene abbilden können.

Auf einer Podiumsveranstaltung im Bundestagswahlkampf wurde mir einst genau diese Frage gestellt: „In der Naturwissenschaft geht es doch um Evidenz und Fakten. In der Politik geht es aber um Überzeugungskraft und Mehrheiten. Wie bringen Sie das eigentlich zusammen?“ Ich habe Jahre gebraucht, um darauf eine Antwort zu finden. Sie lautet: das geht nicht alleine. Es kann nur gelingen, wenn viele wissenschaftliche Akteure sich dazu einbringen; und wissenschaftliche Fakten als Mehrheiten abbilden. Um klarzustellen, dass Gesetze zwar sagen „du darfst nicht“; Naturgesetze jedoch „du kannst nicht“. Nicht als Diktat. Sondern als Handlungsrahmen. Als Spielfeld, auf dem dann darum gestritten werden kann, was wir nun damit anfangen.

Von Wirklichkeit und Wirksamkeit

Und doch merkte ich, wie mich die Sache zunehmend überlastete. Eine (zunächst inoffizielle) Anregung an mich aus Teilen der Mainzer Klimabewegung, zur Oberbürgermeisterwahl im Frühjahr 2023 nochmal anzutreten, lehnte ich ab. Es war die Zeit, wo der Marathon bei mir seine Abnutzung zeigte.

Ich bin in Sachen Klima auf mehreren Ebenen tätig: Seit 2020 bei den Scientists for Future in Mainz, seit 2021 in der Klimaliste Rheinland-Pfalz und natürlich in meinem Hauptberuf in der universitären Forschung und Lehre. Schon länger merke ich, dass das zu viel parallel ist; und ich das besser fokussieren sollte. Worauf? Darauf, wo ich am wirksamsten bin. Und das sehe in Forschung und Lehre. In der Forschung entwickle ich Materialien zur Klimafolgen-Anpassung, allen voran Polymere zur Trinkwassergewinnung für Trockenregionen. Und in der Lehre kann ich in meinen einschlägigen Vorlesungen Klimabildung vermitteln, integriert in den regulären Lehrbetrieb und auch hin und wieder in besonderem Format. Insbesondere bin ich in Mainz Teil des Lenkungsteams eines fächerübergreifenden Zukunftsmoduls für ganzheitliche Klimabildung, bei dem ich auch vor größerem Publikum ab und an einen Impuls setzen kann.

Ich sehe diese Tätigkeitsfelder als meine wirksamsten an. Und das erzeugt einen Konflikt zu einer parallelen Wirkung und Wahrnehmung auf parteipolitischer Ebene. Wieso? Weil dem Thema Klima eben (leider) eine parteipolitische Konnotation zugeschrieben wird. Das sollte natürlich nicht so sein. Und es ist eine wichtige Aufgabe von Wissenschaft und ihren Akteuren, dem entgegenzutreten. Das geht aber paradoxerweise, solange diese Sicht eben so vorherrscht, in der Tat schwerer, wenn du selbst so wahrgenommen wirst. Eigene parteipolitische Aktivität (oder auch bloß schon eine solche öffentliche Zuordnung) bietet eine Angriffsfläche zur Unterstellung von Eigeninteressen. Und jede auch noch so gute Erwiderung und Einordnung führt in die Defensive; und lenkt vom eigentlichen Thema ab. Die klarste Möglichkeit, diesen Konflikt aufzulösen, sehe ich in einem Rückzug vom parteipolitischen Feld.

Aus diesem Grund endet nun mein parteipolitischer Weg. Ich bin vom zweiten Vorsitz des Vereins Klimaliste Rheinland-Pfalz e.V. zurückgetreten und habe meinen Austritt aus der gleichnamigen Bundepartei und ihrem RLP-Landesverband erklärt (wo ich ebenfalls zur Gründung im Frühjahr 2023 bis Sommer 2023 kurz den zweiten Vorsitz innehatte).

Natürlich ist meine Begründung kein absolutes Argument. Am Ende ist es eine Abwägungsentscheidung, und sie fiel mir schwer. Es ist keine Entscheidung gegen die Klimaliste; und schon gar nicht gegen ihre aktiven Personen. Sondern eine Entscheidung für das Wirken im akademischen Betrieb; vor allem im Hörsaal.

Vom dem was bleibt

Es gibt noch etwas, das dabei eine Rolle spielt. Ich habe oben vom 1,5-Grad-Pfad gesprochen. Dieser ist inzwischen verlassen; irreversibel. 1,5 Grad sind gerissen. Erste Kipppunkte scheinen erreicht. Und Klimaschutz steht bis auf Weiteres knallharten politischen und gesellschaftlichen Realitäten gegenüber. Das kurze Möglichkeitsfenster von 2019 ist weitgehend geschlossen. Natürlich zählt noch immer jedes Zehntelgrad. Gleichsam indes geht es jetzt auch immer mehr um Katastrophenmanagement. Darum, Kollapsdynamiken der kommenden Jahre und Jahrzehnte ins Auge zu nehmen. Und bei dem, was kommt, unsere Menschlichkeit zu bewahren. Das ist primär eine soziale Frage. Auch das braucht politische Vertretung — aber die liegt jenseits des naturwissenschaftlichen Ansatzes. Mein Fokus dabei soll das sein, wo ich meine Stärke sehe: bei technologischen Beiträgen, allen voran im Bereich Wassertechnologien für Trockenregionen. Oder sagen wir besser: einfach für Menschen, die es am nötigsten brauchen.

Das Klima ist ein komplexes System. Es gibt mannigfaltige Rückkopplungen zwischen den Komponenten darin. Genau dadurch sind komplexe Systeme erstaunlich robust und stabil auch gegenüber größeren Störungen; zumindest innerhalb bestimmter Parameterbereiche. Werden diese aber verlassen, und wird der Druck auf die Systeme zu groß, dann können dieselben Mechanismen dazu führen, dass sie selbstverstärkend in ganz neue Zustände kippen. Anzeichen dafür sind Fluktuationen im System. Beim Klima gibt es drängende Evidenz dafür, dass es inzwischen in solche Bereiche kommt. Die Fluktuationen sind jedenfalls unübersehbar. Und auch unsere Gesellschaft ist ein komplexes System. Auch sie kann lange Zeit stabil sein, aber gleichsam auch sehr schnell in ganz andere Zustände kippen, wenn der Stress zu groß wird. Auch das deutet sich durch Fluktuationen an. Und auch die werden immer unübersehbarer.

Ich hatte lange Zeit nicht so wirklich erfasst, wie nah wir dem gefährlichen, gesellschaftlich instabilen Bereich schon sind. Ich bin in Demokratie und Wohlstand im Westdeutschland der 1980er und 1990er Jahre aufgewachsen und nahm beides immer als gegeben hin. Und die meiste Zeit meines Lebens war Politik für mich eher eine Art Verwaltung davon. Schon wichtig, klar; aber auch langweilig. Wenn mal neue Parteien auftraten, fand ich das immer spannend, weil es ein wenig aufmischte. Und auch viele der sogenannten Kleinparteien fand ich irgendwie sympathisch. Etwa so wie Provinzfußballclubs; ohne Chance, aber mit viel Herzblut. Doch diese wohlige Zeit ist vorbei. Heute ist die Demokratie in ganz akuter Gefahr. Die gesellschaftlichen Fluktuationen verstärken sich rapide, und der kritische Bereich scheint näher als lange geglaubt. Ich denke nicht, dass sich das auf absehbare Zeit wieder in den stabilen Bereich bringen lässt. Umso mehr gilt es, weitere Destabilisierung zu verhindern. Und das bedeutet auch, Kräfte zu bündeln. Es ist gerade nicht die Zeit für kleinteilige Zersplitterung. Wohl aber dafür, die eigenen Beiträge auf Wirksamkeit zu prüfen. Ich sehe mein stärkstes Wirkungsfeld in Forschung, Lehre und Kommunikation. Und darauf soll fortan der Fokus liegen.

Zum Schluss bleibt mir nur, meinen Dank und meine besten Wünsche an die wundervollen Personen zu richten, die meinen (kurzen) politischen Wegabschnitt begleitet haben. Es war eine Zeit zum Träumen. Zum Träumen davon, dass sich künftig politische Mehrheiten für den Klimaschutz ergeben werden. Dass die zunehmende Krise immer mehr Menschen klar machen wird, dass sich etwas ändern muss. Eben „Wandel gestalten, statt Krisen verwalten“. Es war ein süßer Traum. Doch nun gilt es, Realitäten anzuerkennen. Etwa die Realität, dass es auf absehbare Zeit kaum politisch belastbare Mehrheiten für ambitionierten Klimaschutz gibt. Dass 1,5 Grad gerissen sind; und dass politische Realitäten weltweit sich immer weiter davon entfernen. Ja sogar davon, zumindest noch viel Schlimmeres einzudämmen.

Schon einmal musste ich aus einem wohligen Traum aufwachen. Als mir klar wurde, wie es um das Klima steht. Dass die Zukunft nicht so aussehen wird, wie ich lange glaubte. Und ja, manchmal wünsche ich mich in den süßen Traum zurück. Aber das wäre Realitätsverweigerung. Mein Anspruch ist ein anderer.