Vom Interessanten zum Relevanten
Ein Sommerabendtraum
„Ich brauche ein Foto hiervon“ — das war der Gedanke, der mir an einem lauschigen Sommerabend im Jahr 2013 durch den Kopf schoss. Ich war Nachwuchswissenschaftler und saß in Shanghai bei einem Conference Dinner; an einem runden Tisch voll chinesischer Köstlichkeiten, mit acht weiteren wie mir aus aller Welt. Wir sprachen über Wissenschaft. Über Kolloidteilchen und Makromoleküle im Essen vor uns. Über Anekdoten aus unserem Forschungsalltag. Und darüber, welche Konferenzen wir als nächstes besuchen wollten. An diesem Abend wurde mir klar, wie unfassbar schön das doch ist. Als Wissenschaftler an spannenden Dingen zu arbeiten. Interessante Orte der Welt zu sehen. Dort auf Gleichgesinnte zu treffen. Bei gutem Essen und lockerer Stimmung über das zu plaudern, was uns verbindet. Was unser Leben bestimmt. Und was es unfassbar bereichert.
Ich schoss ein Gruppenbild und packte es an den Anfang meines Vortrags am folgenden Tag. Es war mein erster Plenarvortrag auf einer großen internationalen Konferenz. Im Publikum saßen mehrere wichtige Köpfe meiner Fachcommunity, und ich hatte den Vortrag vorab gründlich poliert. In letzter Minute änderte ich das Intro. Ich zeigte das Bild vom Vorabend und teilte meine Gedanken dazu. Dass eben genau das doch vielleicht zum Schönsten gehört, was unser Beruf zu bieten hat. Ist das nicht ein unfassbares Privileg? Wie dankbar können wir sein, dass uns Gesellschaften das ermöglichen. Zumal die meisten Menschen weder verstehen noch größeres Interesse dafür haben, was wir eigentlich treiben. Man vertraut uns einfach. Billigt uns zu, dass wir schon irgendwie Gutes für die Menschheit tun wollen. Für unser aller Wohlstand. Unser Wohlbefinden. Und unser Wohlsein. Hiervon schlug ich dann eine Brücke zum Konferenzthema; und was meine eigene Forschung damit zu tun hat.
Der Vortrag kam gut an; noch am Folgetag wurde ich darauf angesprochen. Es sei im ganzen Saal spürbar gewesen, wie sehr ich die Sache liebe. Einer der anderen Jungwissenschaftler, der am Abend zuvor mit am Tisch gesessen hatte, meinte zu mir: „I am sure, you will get a faculty position soon.“ Oh, das ging runter wie Öl. Denn das war das Größte und Sehnlichste, was ich mir damals wünschte.
Warum bin ich Wissenschaftler geworden? Ich kann es nicht erklären. Es gab und gibt dafür keinen greifbaren Grund. Keine konkrete bewusste Entscheidung. Es kam einfach irgendwie dazu. Ich vergleiche es mit Liebe. Auch die lässt sich nicht rationalisieren. Wenn sie da ist, spürst du es einfach. Ebenso ist es bei mir mit der Ehrfurcht, mit der Faszination, mit der Neugier gegenüber der Natur. Ich weiß nicht, wieso mich Moleküle faszinieren. Sie tun es einfach. Umso mehr, je imposanter sie sind. Die imposantesten baut natürlich das Leben. Naturstoffe, Strukturbausteine, Biopolymere — all das fand ich einfach spannend. Aus chemischem Blickwinkel. Und auch aus physikalischem. Wie etwa der Zusammenhalt der Moleküle zustande kommt. Wie sie miteinander wechselwirken. Und wie sie zu Größerem führen; sich zu Verbänden und komplexeren Einheiten zusammenfinden ... und in höchster Eleganz dann weiter zu Zellen, zu Organen, zu Organismen, zu Leben. Es ist eine Geschichte, die kaum in Worte zu fassen ist. Um im Kern davon steht die Chemie. Das Bindeglied zwischen Physik und Biologie, zwischen den Gesetzen des Universums und den Regeln des Lebens. Ich finde das unbeschreiblich. Ein schieres Wunder. Eine unfassbare Einzigartigkeit in einem Universum, das zu 99,9% aus nur zwei chemischen Elementen besteht; den einfachsten, die wir kennen. Und worin selbst diese so verdünnt sind, dass größtenteils schlicht gar nichts vorliegt.
Es sind diese Zusammenhänge, diese Wunder, die mich für Naturwissenschaft im Allgemeinen und für Chemie im Speziellen begeistern. Und die mich auch während mancher Durststrecke weiter antreiben, durch mein Schaffen diese Wunder zu erkennen. Heute bin ich selbst Forscher. Darf Teil dieser Geschichte sein. Darf sie in meinen Vorlesungen weitererzählen. Und sie jeden Tag weiter entdecken.
Es gibt ein Bild, das ich oft als Symbol für meine Forschung benutze: Den Wanderer über dem Nebelmeer von Caspar David Friedrich. Ich finde, dieses Gemälde ist vielleicht die beste Illustration von akademischer Wissenschaft überhaupt. Ein erhabenes Fortschreiten ohne Zielmarken und Zeitvorgaben. Einfach selbst getrieben. Aus Tatendrang. Um Einblicke in den Nebel zu erhalten. Hier einen Einblick; und dort einen Einblick. Hier eine Verbindung. Und dort einen Zusammenhang. Vereinzelt gibt die Natur ihre Geheimnisse preis. Und der Wanderer gibt sich dem hin. Nicht, weil er es irgendwie nutzen oder verwerten möchte. Sondern einfach, weil es ihm genügt, Teil davon sein zu dürfen. Teil eines Wunders, das vielleicht nur ein Gemälde greifbar machen kann.

Wie der Wanderer über dem Nebelmeer ließ auch ich mich treiben. Ich habe mich nie bewusst und strategisch für die Naturwissenschaft entschieden. Ich war in der Schule einfach gut in Chemie und fand es spannend; und so wählte ich eben dies als Studienfach. Dort floss schließlich alles zusammen. Ich spezialisierte mich in Richtung Physikalische Chemie der Polymere. Das Beste von allem. Die Brücke von Materie und Materialien. Von Struktur und Funktion. Und von Physik, Chemie und Biologie. In meiner Doktorarbeit untersuchte ich, wie sich große Kettenmoleküle bewegen. Ich nutzte optische Methoden und Fluoreszenzlicht, um ihnen dabei zuzuschauen. Während dieser Jahre wurde mir klar, dass ich nie wieder etwas anderes machen wollte. Das Forschen, das monatelange Vorbereiten von Experimenten, das gespannte Durchführen davon, das Rätseln über deren Ausgang, das Diskutieren darüber mit anderen, das ständige Nachdenken auch im Alltag, das Zusammenkommen auf Konferenzen und das Mitteilen der eigenen Erkenntnisse war einfach genau das, was ich wollte. Ein Leben für Forschung und Lehre. Die Laufbahn eines Professors.
Es folgten aufregende und aufreibende Jahre als Postdoc in Harvard und als Nachwuchsgruppenleiter in Berlin. In dieser Zeit zählte kaum etwas anderes für mich als Wissenschaft. Für das Gesellschaftliche, das Politische, das Große und Ganze, für das Drumherum interessierte ich mich zu dieser Zeit fast überhaupt nicht. Ich las keine Tageszeitungen, sondern Fachzeitschriften. Mich interessierte nicht, was in der Welt vorging, sondern bloß, was in meiner Welt vorging: Wer hat irgendwelche Preise bekommen oder Rufe erhalten? Wo gibt es Ausschreibungen? Welche Papers sind erschienen? Welche Trends zeichnen sich in meinem Fachgebiet ab? Und wieso versteht Reviewer 2 eigentlich unser tolles Manuskript nicht?
Es hätte ewig so weiter gehen können. Vor zehn Jahren erfüllte sich schließlich mein Lebenswunsch. Ich erhielt einen Ruf auf eine Universitätsprofessur in Mainz, den ich annahm. Ein Leben wie im Traum schien vor mir zu liegen. Forschen. Lehren. Ohne Sorge. Einfach so. Aus purer Faszination. Doch es kam anders.
Ein unsanftes Aufwachen
Manche Schlüsseltage beginnen unscheinbar. So war es auch am Dienstag, den 5. November 2019. Ich hätte mir am Morgen dieses Tages nie träumen lassen, welche Auswirkungen er auf mein weiteres Leben haben sollte. Gegen Mittag checkte ich meine Mails; und fand darin eine Nachricht, die über meinen damaligen Institutsverteiler kam. Sie stammte von den Scientists for Future und rief Hochschullehrende dazu auf, sich am Freitag, den 29. November 2019 an einer Aktion namens Lectures for Future zu beteiligen. Die damals sehr aktive Bewegung Fridays for Future hatte für diesen Tag einen globalen Klimastreik geplant, und die ihr nahestehenden Scientists for Future regten dazu an, reguläre curriculare Lehrveranstaltungen an diesem Tag durch Sonderstunden zum menschengemachten Klimawandel zu ersetzen — gern auch mit Bezug zum eigenen Fachthema. Ich fand die Aktion gut und beschloss mitzumachen. Wie jeden Freitag stand an diesem Tag ohnehin meine Grundvorlesung Physikalische Chemie auf dem Plan, und dort passt das Thema generell gut rein.
Zuerst hatte ich gar nicht vor, daraus eine größere Aktion zu machen. Ich wollte einfach an dem Tag wie sonst auch in den Hörsaal kommen und dann verkünden, dass statt des Regel-Curriculums heute eben eine Sonderstunde zum Thema „Physikalische Chemie des Klimawandels“ gemacht würde. Der guten Ordnung halber setzte ich vorab unser Dekanat darüber in Kenntnis; und stieß dort auf Interesse. Schnell kam die Frage auf, ob ich damit einverstanden sei die Vorlesung zu filmen und das Video ins Netz zu stellen. Klar, warum nicht — ich sagte zu. Um dann zu merken, dass es jetzt natürlich auch gut werden müsse. Und so begann ich mich einzuarbeiten. Tief einzuarbeiten. Sehr tief einzuarbeiten. Und da machte es Klick.
Erst da wurde mir klar, dass das Erdklima in den letzten nur knapp 200 Jahren so stark wärmer geworden war, wie davor in gut 11.000 Jahren nicht. Dass wir uns damit aus der wohligen Epoche des Holozäns herauskatapultieren, in der die Menschheit durch ein mildes und vor allem stabiles Klima erst in die Lage geriet, sesshaft und arbeitsteilig zu werden. Weil eben dies erst all das ermöglichte, was unsere Zivilisation ausmacht — inklusive Bildung, Universitäten, Wissenschaft und Forschung. Erst wenn die Frage „wo gibt’s was zu essen“ sicher geklärt ist, öffnet sich Raum für alles weitere. Mir wurde klar, dass genau das jetzt auf dem Spiel steht. Dass es um nicht weniger geht als um die Frage, ob Landwirtschaft künftig noch funktionieren wird oder nicht. Dass es Kippelemente im Erdsystem gibt, hauptsächlich in Form seiner Eiskörper, seiner Ökosysteme und seiner Strömungssysteme, die wenn sie einmal angestoßen sind, selbstverstärkend und unbremsbar, ja vielleicht sogar gekoppelt und gegenseitig anschiebend, epochale Veränderungen hervorrufen können. Und dass, um all dies abzuwenden, bereits fast alle Handlungsfenster geschlossen sind.
Mir wurde klar, was 1,5 Grad bedeutet. Ein Schwellenwert für die globale Erwärmung, den nicht zu überschreiten sich die Weltgemeinschaft im Dezember 2015 in Paris vorgenommen hatte; als ich gerade meinen Ruf auf eine Professur erhielt und davon kaum etwas mitbekam. Der Wert 1,5 Grad ist ein Kompromiss, um desaströse Verluste in Ökosystemen und der planetaren Biodiversität zumindest einigermaßen zu begrenzen. Und auch, um das Risiko für das Auslösen der besagten Kippszenarien vertretbar zu halten. Physikalisch geboten wäre eigentlich ein noch niedrigerer Wert; aber politisch möglich war maximal dieser. Erst jetzt wurde mir klar, dass selbst das für Teile der Welt schon das Ende dessen bedeutet, wie wir sie kennen; und für einige sogar deren Ende überhaupt. Dass diese scheinbar niedrig liegende mittlere Temperaturschwelle auch für uns in Deutschland völlig veränderte Zustände bedeutet. Und dass selbst das wohl gar nicht mehr erreichbar ist. Seit inzwischen genau zwei Jahren jedenfalls liegen wir bereits darüber. Der Gehalt an Treibhausgasen in der Atmosphäre ist so hoch wie seit schier unfassbaren Zeiten nicht. Es ist kein Budget mehr dafür übrig. Bereits jetzt ist alles, was wir tun, Hochrisiko. Jede weitere Gigatonne führt tiefer in den Nebel. Oder sagen wir lieber: in die Rauchschwaden eines Infernos.
Ja, davor hatte ich natürlich auch schon vom Klimawandel gehört; und auch davon, dass er ein großes Problem ist. Aber irgendwie hatte ich dabei immer geglaubt, dass wir den Umstieg in eine nachhaltige und klimafreundliche Wirtschafts- und Lebensweise ja schon alle irgendwie wollen — und halt vermutlich bis etwa in mein Rentenalter schaffen müssten. Und dass sich das Klima dann womöglich auch wieder verbessern werde, quasi stückchenweise, je mehr wir mit dessen Schutz vorankommen. Dass sich die Schäden irgendwie reparieren lassen. Doch nun wurde mir klar, dass das ausgeschlossen ist. Dass es nicht darum geht, irgendwas wieder gut zu machen; sondern einfach nur darum, das Allerschlimmste noch zu verhindern. Es gibt kein Zurück. Es wird nichts wieder gut.
Und mir wurde die schiere Dringlichkeit bewusst. Dass all dies genau jetzt passieren muss. In den Zwanzigerjahren. Global. Dass wir die Treibhausgasemissionen so drastisch reduzieren müssen, dass sie 2030 weltweit wieder auf dem Stand der 1970er sind. Eine Halbierung in fünf Jahren! Und dann in nur weiteren zehn bis maximal fünfzehn Jahren runter auf netto-null. Schluss. Aus. Gar nichts mehr. Der dazu nötige Reduktionspfad ist noch steiler als der, den die Welt im Frühjahr 2020 im globalen Corona-Schock vollzog. Aber dann eben nicht temporär und als Notmaßnahme. Sondern dauerhaft. Global gewollt und kontrolliert.
Diese Erkenntnis haute mich um.
Was dann folgte, war eine mehrjährige Zeit völligen Stabilitätsverlusts. Von Depression und Aggression. Von Albträumen, in denen es rings um unsere Siedlung brannte oder bei Sturm Bäume auf unser Haus stürzten. Am Ende dessen stand ein Zustand der Akzeptanz. Und eine komplette Wende meiner Forschungstätigkeit.
Ich kann heute nicht mehr einfach nur aus Faszination vor mich hin forschen. Es wäre, wie im brennenden Haus in Ruhe die Briefmarkensammlung anzuschauen. Albert Einstein soll einst gesagt haben: „Diejenigen, die das Privileg haben zu wissen, haben die Pflicht zu handeln.“ Ich würde dem an die Seite stellen: „Jedes Handeln bestimmt die Zukunft; auch jedes Nichthandeln.“ Und beides betrifft ganz besonders uns Akteure im Wissenschaftsbetrieb. Unser Privileg ist kaum in Worte zu fassen. Unser Wissen ist hoch. Und unsere Handlungsmöglichkeiten im Prinzip auch.
Kürzlich postete ich auf Bluesky: „Die Zeiten, wo Forschung zu jedem Thema erstmal spannend und legitim war, sind vorbei. Heute ist alles, was nicht hilft den Kollaps von Klima, Biosphäre und Demokratien abzumildern, bloß nice to have.“ Ich erntete dafür viel Kritik. Was ich mir denn anmaßen würde, darüber entscheiden zu wollen, welche Forschung wichtig sei und welche unwichtig. Aus der Perspektive meines eigenen Selbst von vor zehn Jahren kann ich diese Kritik sogar gut nachvollziehen. Aus heutiger Sicht und Kenntnis allerdings komme ich zu genau dieser Aussage. Die Welt kollabiert. Kritische Teile des Erdsystems sind mitten in kritischen Übergängen. Es ist unübersehbar; durch Fluktuationen im Kleinen und Großen. Gesellschaftliche Spannungen nehmen zu; und das Autoritäre lechzt nach Macht. Und all dies stellt die Basis von jeder Forschung, ja von Forschung an sich infrage. Eine Welt im Klimachaos, im Kollaps ganzer Ökosysteme, im Verlust jeder Planbarkeit beim Anbau von Nahrungsmitteln und in politischen Wirren, in denen Populisten und Autokraten die Ruder übernehmen, ist ganz bestimmt nicht wissenschaftsfreundlich. Es gibt darin keine relevante und irrelevante Forschung — sondern letztlich wohl schlicht gar keine mehr.
Ja, natürlich ist jede Form von Forschung prinzipiell gut und wichtig. Ob sie mal einen Nutzen bringt, lässt sich anfangs oft gar nicht beurteilen. Und auch wenn nicht, so ist sie dennoch um ihrer selbst willen legitim. Allein schon, um die wissenschaftliche Arbeitsweise weiterzugeben. Doch es macht einen Unterschied, ob ich dies bei einem netten Konferenzdinner an einem lauschigen Sommerabend betrachte — oder auf dem Deck der sinkenden Titanic. Forschung findet in einem Gesamtkontext statt. Und das ist nicht mehr das Idyll des Wanderers über dem Nebelmeer; sondern vielmehr das Inferno einer Welt in Flammen.
Eine neue Realität
Ich selbst habe mich in den vergangenen fünf Jahren Stück für Stück von meinem früheren Forschungstraum verabschiedet. Noch immer faszinieren mich Makromoleküle und Polymere. Aber jetzt für eine ganz konkrete Frage: wie genau können sie uns helfen in der Welt, auf die wir zusteuern? Ich habe für meine eigene Forschung dazu das Feld der Wassertechnologien identifiziert. In einem zuletzt vom BMBF geförderten Projekt namens HydroDesal, das ich in Mainz koordiniere, erarbeiten wir Hydrogel-basierte Lösungen zur Entsalzung von Meerwasser zur Selbstversorgung einzelner Haushalte und Kleinsiedlungen in wirtschaftlich schwachen Regionen. Der Prozess wird getrieben einfach durch den regelmäßigen Tag-Nacht-Wechsel: temperatursensible Hydrogele quellen in Meerwasser bei Nacht und entsalzen es dabei, indem sie nur Wasser aber nicht Salz aufnehmen. Bei Tag entquellen sie wieder und setzen das aufgenommene Frischwasser zur Nutzung frei.

Das Team dahinter vereint Forschende aus Mainz mit Forschenden aus dem Irak und Iran. Es ist mir eine besondere Ehre, hier partnerschaftlich mit Kollegen aus Ländern zusammenzuarbeiten, die zu Zeiten meiner Kindheit noch im Krieg gegeneinander waren. Es waren die Fernsehbilder dieses Krieges, die mich damals vielleicht zum ersten Mal im Leben verstörten. Ich war noch zu klein um zu verstehen, worum es dabei ging; aber schon groß genug um zu spüren, dass dort Grausames geschieht. Heute weiß ich: auch Wasser spielte dabei eine Rolle. Zentral für die Wasserversorgung der gesamten Region sind die beiden Flüsse Euphrat und Tigris, die beide in der Türkei entspringen, teilweise durch Syrien fließen und sich im Irak schließlich zum Marschgebiet Schatt al-Arab verbinden. Die Wasserversorgung dort ist maßgeblich davon abhängig. Und einer der Auslöser des Irak-Iran-Krieges (1980-1988) war neben der machtpolitischen Rivalität der beiden jungen Regime auch ein Streit um den genauen Grenzverlauf entlang des Tigris (sowie die irakische Ambition, die öl- und wasserreiche Provinz Chuzestan im Iran zu annektieren, deren Bevölkerung überwiegend arabischsprachig ist). Die Großmachtfantasien des irakischen Diktators Saddam Hussein gingen 1991 sogar so weit, dass er Euphrat und Tigris mit Hilfe eines mehr als 500 km langen Damms umleiten ließ. In der Folge trockneten 93% des Schatt al-Arab aus, und 90% der Bevölkerung floh. Inzwischen bedroht die Klimakrise das teils regenerierte Marschgebiet, das im Sommer 2023 durch Hitze fast völlig austrocknete. Währenddessen gilt der marode Mossul-Staudamm als einer der gefährlichsten der Welt und muss jährlich für 100 Millionen US-Dollar neu abgedichtet werden.
All diese Konflikte, all dieses Leid, all dieses Misstrauen spielt in unserem Forschungsverbund, in unserer Zusammenarbeit, im gegenseitigen Agieren indes absolut keine Rolle. Es geht darin einfach um Wissenschaft. Um Hydrogele. Um Nanostrukturen. Und um deren Wirksamkeit bei der Entsalzung von Wasser. Der Kontakt ist einfach nur herzlich. Ich merke das etwa jedes Jahr zu Weihnachten und Ostern. Von keinen meiner deutschen Verwandten und Freunde bekomme ich so liebgemeinte, ja fast schon ins übertrieben-Schnulzige gehende Grüße und Wünsche wie von meinen selber ja muslimischen Forschungskollegen.
Wir können mit unseren Hydrogelen nicht all die Probleme der Region lösen; und schon gar nicht die Welt retten. Aber wir können Beiträge liefern. Nicht, weil die Forschung interessant ist. Sondern weil sie relevant ist. Und nicht, um die Welt vor dem Klimachaos zu bewahren. Sondern um dabei Menschlichkeit zu erhalten. Zumindest so lange wie möglich. Es ist das vielleicht Beste, was ein Mensch tun kann.
Ich finde, genau dies sollte nun Aufgabe jeder Forschungsambition sein. Die Zeiten, wo Forschung einfach nur interessant sein und Spaß machen durfte, sind vorbei. Natürlich, ich würde mir das auch anders wünschen. Doch die Realität ist eine andere. Sie ist geprägt durch Kollaps von vielem, was uns als menschliche Zivilisation ausmacht. Nun gilt es zu retten, was zu retten ist. Allen voran von Menschlichkeit. Und von Zivilisiertheit. Was immer dabei hilft, wird gebraucht. Diese Wirklichkeit habe ich inzwischen erkannt und an-erkannt. Alles andere fände ich ... nicht wissenschaftlich.